: Système touristique et culture technique dans l’Arc lémanique. Analyse d’une success story et de ses effets sur l’économie régionale (1852–1914). Neuchâtel 2014 : Éditions Alphil, ISBN 978-2-88930-009-9 476 S.

Gigase, Marc; Cédric, Humair; Laurent, Tissot (Hrsg.): Le tourisme comme facteur de transformations économiques, techniques et sociales (XIXe–XXe siècles). . Neuchâtel 2014 : Éditions Alphil, ISBN 978-2-88930-003-7 353 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans-Ulrich Jost

Diese beiden Publikationen, Resultat einer vierjährigen vom Nationalfonds finanzierten Studie über die am Genfersee im 19. Jahrhundert aufgebaute Tourismusindustrie, eröffnen einen neuen und aufschlussreichen Einblick in einen bisher eher vernachlässigten Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz. Die Betonung auf «Industrie», oder wie im französischen Titel auf «System», ist wegleitend, denn sie zeigt an, dass diese Studie den Tourismus in seiner komplexen Struktur umfassend angehen will.

Wer sich rasch über die vielfältigen Formen touristischer Entwicklungen orientieren will, greift mit Vorteil zuerst auf das zweite der hier angekündigten Bücher. Die darin enthaltenen, aus einem Kolloquium hervorgegangenen neunzehn Diskussionsbeiträge illustrieren bestens die verschiedenen Typen des Tourismus. Je nach geografischer Lage und gesellschaftspolitischen Umständen führen spezifische Kombinationen von Faktoren zur Entstehung eines Touristikzentrums. Dass der Tourismus sich grundsätzlich im Rahmen einer Industriegesellschaft und im Zusammenhang mit dem Aufkommen einer begüterten bürgerlichen Oberschicht entwickelt, erklärt allein noch nicht die Entstehung dieses Phänomens. Wichtig sind vielmehr auch die Zusammenarbeit der lokalen Eliten, die Mobilisierung von Kapital und die Empfänglichkeit für innovative Neuerungen. Der besondere Reiz dieser Aufsatzsammlung liegt nicht zuletzt an der geografisch weit gefächerten Verteilung der Beispiele (Neapel, Bretagne, Vercors, Santiago de Compostela, Albany/New York, Salzkammergut). Weitere Beiträge sind soziokulturellen Aspekten gewidmet (Saisonarbeiter, Bergführer und Alpinisten, Einwirkung der Automobile etc.).

Die oben erstgenannte Studie über den Tourismus im Genferseegebiet nimmt zuerst einmal die Entwicklung der Infrastruktur in den Fokus. Beruhend auf einem umfangreichen und mittels einer Datenbank organisierten Materialkorpus kommen dabei alle Aspekte der Tourismusindustrie, von den Autoren als Leading Sector bezeichnet, zur Sprache. Nach einer summarischen Umschreibung des Raumes (1. Kp.) werden die Akteure (2. Kp.) und anschliessend die sozialen und ökonomischen Netzwerke (3. Kp.) analysiert. Die folgenden drei Kapitel sind den Wechselbeziehungen zwischen touristischer Entwicklung und technischer Modernisierung gewidmet. Dabei geht es sowohl um die Kapitalbeschaffung (Banquiers, Advokaten und Politiker), die Infrastruktur (Transportmöglichkeiten und Mobilität), das Management der Hotels (von der Finanzierung bis zur Installation der Toiletten) als auch um die Förderung der Attraktivität und des Images der Region. Dabei werden auch die Widerstände gegen diese Entwicklung (Heimat- und Naturschutz z.B.) oder Unfälle und Katastrophen (Explosion auf dem Dampfschiff Mont-Blanc, 1892) ausführlich geschildert.

Angesichts des komplexen touristischen Systems stellt sich die Frage, welches die wichtigsten Schaltstellen oder Faktoren sind, die den Aufbau und die erspriessliche Entwicklung beförderten. In dieser Studie wird dem Transportwesen und der Zusammenarbeit der lokalen Eliten eine grosse Bedeutung beigemessen. Lausanne als Knotenpunkt und die Simplonlinie als wichtiger Anschluss ans internationale Eisenbahnnetz bildeten, zusammen mit dem Ausbau der lokalen Transportmittel, entscheidende Voraussetzungen für die Entwicklung des Tourismus. Damit aber solche Infrastrukturen realisiert werden konnten, war eine dichte und effiziente Zusammenarbeit der lokalen Eliten notwendig. Wie diese über Verwaltungsräte, Assoziationen, Berufsverbände und persönliche Beziehungen zustande kam, wird in dieser Arbeit ausführlich dargestellt.

Die Autoren sehen die Welt des Tourismus am Genfersee aber auch als eigentliches Labor der technischen Moderne, in dem eine begüterte internationale Gesellschaftsschicht Erholung, Unterhaltung, medizinische Betreuung, landschaftliche Reize und ruhige Alterssitze mit diskreter Bankbetreuung sucht. Ihr steht ein weitgehend aus Einheimischen zusammengesetztes Bürgertum zu Diensten, das aus dieser Fremdenindustrie zum Teil erhebliche Profite erwirtschaftet. Weniger deutlich präsent ist in dieser Studie hingegen die andere gesellschaftliche Seite, jene der Angestellten und Dienstboten.

Am Schluss werden die wirtschaftliche Bedeutung und die von der Tourismusindustrie ausgelösten Synergien beleuchtet. So kann man beispielsweise feststellen, dass die Modernisierung der Infrastruktur der Städte Genf und Lausanne Hand in Hand mit der Entwicklung der Tourismusindustrie voranging oder dass die Banken ihren Aufschwung nicht unwesentlich diesem Wirtschaftssektor verdankten. Aber auch Produkte wie die Schokolade, das Mineralwasser, Rauchwaren oder Uhren und Schmuck verdanken ihre Verbreitung in grossem Masse dem Tourismus.

Darstellung und Analyse dieser Studie beruhen auf einer umfangreichen, beinahe nicht übersehbaren Materialsammlung. Die Themen werden dementsprechend bis ins kleinste Detail ausgebreitet und analysiert, wobei mit Zahlen und Grafiken nicht gespart wird. Da sich aufgrund des thematischen Aufbaus die verschiedenen Elemente der Studie überschneiden, kommt es beinahe unausweichlich zu Redundanzen. Dies strapaziert gelegentlich die Aufmerksamkeit des Lesers. Dafür erhält man jedoch einen starken und detailreichen Eindruck über den Umfang und die Bedeutung eines fundamentalen Wirtschaftssektors, der bisher unter dem Titel «Tourismus» nicht immer in seinem gesamten Umfang erfasst worden war.

Zitierweise:
Hans-Ulrich Jost: Rezension zu: Cédric Humair, Marc Gigase, Julie Lapointe Guigoz, Stefano Sulmoni, Système touristique et culture technique dans l’Arc lémanique. Analyse d’une success story et de ses effets sur l’économie régionale (1852–1914), Neuchâtel: Editions Alphil- Presses universitaires suisses, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 176-178

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 176-178

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